Kanonisierung und Institutionalisierung von Wissen. 9. Jahrestagung des InterDisziplinären Kolloquiums

Kanonisierung und Institutionalisierung von Wissen. 9. Jahrestagung des InterDisziplinären Kolloquiums

Organisatoren
Heinz Georg Held / Marion Steinicke, InterDisziplinäres Kolloquium (IDK); Nils Heeßel, Altorientalistik, Philipps-Universität Marburg
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
05.11.2021 - 06.11.2021
Von
Heinz Georg Held, Dipartimento di Studi Umanistici, Universität Pavia

Wie auf den vorangegangenen IDK-Konferenzen diskutierten Vertreter:innen natur-, lebens-, sozial- und geisteswissenschaftlicher Fächer die übergreifende Themenstellung aus der Sicht unterschiedlicher Disziplinen und Wissenschaftstraditionen. Untersucht wurden Fragen der Archivierung und Verwaltung von Wissen im Kontext seiner fortschreitenden Vermehrung wie auch seiner politischen und sozialen Regulierung; darin einbezogen waren ebenfalls Prozesse nachträglicher Traditionserfindungen und andere Formen wissenschaftsgeschichtlicher Mythenbildung.

Nach der Begrüßung der Teilnehmer:innen und einer kurzen Erläuterung des thematischen Spektrums im Hinblick auf die Arbeit des IDK durch dessen Leiterin Marion Steinicke (Koblenz) demonstrierte der Assyriologe NILS HEESSEL (Marburg) auf eindrucksvolle Weise die historische Persistenz der angesprochenen Problematik; sein epistemologischer Rückblick auf einen vergleichsweise frühen Kanonstreit, den altorientalische Gelehrte „zwischen politischen Notwendigkeiten und wissenschaftlichen Ansprüchen“ schon vor über 3.000 Jahren auszutragen hatten, gab hinreichend Anlass, einen über Kulturen und Zeiten hinaus grundsätzlichen strukturellen Zusammenhang zwischen Generierung von Wissen und seiner Kanonisierung resp. seiner institutionellen Verwaltung zu vermuten, und zwar unabhängig von offenkundigen inhaltlichen, formalen oder heuristischen Differenzen.

Ein weiteres Beispiel aus der etwas jüngeren Wissenschaftsgeschichte lieferte FLORIAN MÜLLER (Innsbruck) mit seinem Vortrag über die Ausgrabungen antiker und seinerzeit als „Zwergenstadt“ gedeuteter Gebäudereste durch den „Vater der Archäologie“ in Tirol Anton Roschmann (1694-1760). Der „Polyhistor“ und erste Direktor der Universitätsbibliothek Innsbruck gilt aufgrund seiner Methodik und Zielrichtung als wegweisend für die Erforschung der Tiroler Urgeschichte; er initiierte die Gründung der Innsbrucker Gelehrtenakademie Academia Taxiana, in deren Rahmen er nicht allein seine Forschungsmethoden und -resultate präsentieren, sondern auch seine Vorstellungen zur Konservierung und Präsentation der Fundstücke vermitteln konnte.

Im nachfolgenden Referat über die römische Accademia de lo Studio de l’Architettura verwies BERND KULAWIK (Bern) auf einen akademischen Kreis von Künstlern und Gelehrten im Rom des 16. Jahrhunderts, dessen weitreichende Tätigkeit und Wirkung von der Kunstwissenschaft bislang nur unzureichend gewürdigt worden sei: ein geradezu enzyklopädisches Unternehmen mit dem Ziel, die materielle Kultur und namentlich die Architektur der römischen Antike möglichst vollständig zu dokumentieren, um auf derart gesicherter Grundlage einen verbindlichen Regelkanon für künftige Bautätigkeit ableiten zu können.

Der Vortrag von REINER FENSKE (Dresden) widmete sich dagegen aus wissenshistorischer Perspektive der politikgesteuerten Implementierung eines neuen Wissensfeldes in den akademischen Betrieb der alten Bundesrepublik. Die Konzentration des Entwicklungsbegriffs wie auch der Entwicklungsforschung auf nicht-europäische Kulturen, betonte der Referent, sei nicht nur wissenschaftsgeschichtlich signifikant, sondern zugleich Ausdruck einer bestimmten „Weltdeutung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“.

Die beiden anschließenden Beiträge thematisierten wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen zum 19. Jahrhundert. ALEXANDER STÖGER (Leiden) beschrieb eine folgenreiche naturwissenschaftliche Debatte im Deutschen Reich, die die Institutionalisierung der Zoologie als akademische Disziplin begleitete. Bei den Versuchen Erich Haeckels und seiner Anhänger, die Gegner der Evolutionstheorie der Unwissenschaftlichkeit zu bezichtigen, spielte der Begriff „Dogmatismus“ eine entscheidende und zugleich zwiespältige Rolle, da sich Haeckel selbst, indem er einem „naturwissenschaftlichen Zugang zur Selbsterkenntnis des Menschen“ das Wort redete, dem Vorwurf einer Grenzüberschreitung zu Theologie und Philosophie und somit einer dogmatischen und wissenschaftsfernen Haltung aussetzte.

FLORIAN GRAFL (Heidelberg) thematisierte ein literarisches Genre, das sich seit den 1830er-Jahren in verschiedenen europäischen Ländern zu einem ausgesprochen beliebten Medienformat entwickelte und nicht nur in literaturwissenschaftlicher Hinsicht, sondern auch unter wissenschaftsgeschichtlichen Gesichtspunkten von Interesse sei: als ein „Wissensformat“, das schon aufgrund seiner weiten (auch transatlantischen) Verbreitung populäre Vorstellungen von Menschen einer bestimmten Region, Berufsgruppe, Gesellschaftsschicht etc. wesentlich mitprägte.

Mit popularisierten Vorstellungen, die nicht zuletzt Eingang in fachwissenschaftliche Kreise gefunden haben, beschäftigte sich auch BEATE LÖFFLER (Dortmund). Sie ging der Frage nach, wie es angesichts einer weitgehenden Unkenntnis westlicher Akademiker dazu kommen konnte, dass Japan zum „Ideal der Architekturmoderne“ wurde, und erläuterte anhand eines kurzen rezeptionsgeschichtlichen Rückblicks ihre These, dass gerade die Ausblendung der japanischen Architektur im Zuge des im 19. und frühen 20. Jahrhunderts populären „Japonismus“ der Ausbildung und Verbreitung bestimmter Klischees förderlich gewesen sei, die dann ihrerseits inspirierend auf avantgardistische Architekten in Europa wirken konnten, ohne dass jedoch, wie die Referentin kritisch vermerkte, die architekturhistorische Forschung die vielfachen Missverständnisse gegenüber der traditionellen japanischen Architektur gänzlich überwunden hätte.

PETRA MISSOMELIUS (Innsbruck) richtete das Augenmerk auf einen im Rahmen dieser Konferenz bislang nur marginal berührten Konnex von globalisierter Bildungstechnologie und privatwirtschaftlichen Gewinninteressen. Kommerzielle Organisationen, die unter dem politisch wirkungsvollen Schlagwort „digitale Bildung“ auf einem „Weltbildungsmarkt“ erfolgreich ihre Produkte öffentlichen schulischen und universitären Einrichtungen zu verkaufen wissen, nehmen dabei, wie die Referentin ausführte, direkt und indirekt Einfluss nicht nur auf didaktische Methoden, sondern auch auf Lerninhalte wie -ziele. Wiewohl es bislang noch kaum abzusehen sei, „was es bedeutet, wenn diese Akteure die Bildung neu erfinden“, plädierte Missomelius für einen offensiven Umgang mit digitalen Bildungsangeboten sowie für einen Ausbau von medialen wie auch medienkritischen Kompetenzen, um diese Entwicklung zu steuern.

PIT KAPETANOVIC (Heilbronn) beschrieb in seinem Kurzreferat ein anderes bildungspraktisches Problem, das weniger die Vermittlungstechniken als die zu vermittelnden Inhalte und Themen betraf. Mit der rhetorisch anmutenden Frage „Lässt sich ‚Größe’ transparent machen?“ verwies er auf ein Grundproblem höherer und weiterführender Schulen namentlich (aber wohl nicht nur) in den Fächern Philosophie und Ethik: den Schüler:innen im Unterricht selbst die Auswahl des Lehrstoffs, der behandelten Texte und Autor:innen verständlich zu machen. Das didaktische Problem erweist sich dabei als hermeneutisches: Um die Bedeutung der behandelten Autor:innen zu begreifen, sind offenkundig Vorkenntnisse erforderlich, die indessen erst durch die Lektüre besagter Autor:innen erworben werden können. Es sei daher wesentlich, so der Referent, im Rahmen des Unterrichts auch das „Prinzip der Kanonisierung kriterienbasiert zu erläutern“ und somit den Kanon selbst transparent zu machen.

OLIVER FOHRMANN (Münster) interpretierte die Herrschaft des Geldes in der Ökonomik als Folge der zweckbezogenen Instrumentalisierung und nachfolgenden Festschreibung eines bestimmten Wissens, das auf einem verdrängten Geld-Denken und dessen irrationalen Voraussetzungen beruht, namentlich auf dem „Glauben“ an den objektiven Wert des Geldes, dem auch heute noch der akademische Mainstream der Volkswirtschaftslehre anhängt: als Wissenschaft der Geldbeglaubigung, die ähnlich wie das Geld selbst auf einer Illusion beruht, diese aber nicht kritisch befragen kann, ohne das eigens kanonisierte Wissen in Frage zu stellen, und somit darauf angewiesen ist, die „Herrschaft des Geldes“ in Forschung und Lehre immer wieder neu zu bestätigen.

Ein Kanon, der in unserer Gegenwart ebenfalls praktisch alle Lebensbereiche bestimmt, ohne als solcher deutlich in Erscheinung zu treten, war Thema des Vortrags von LODEWIJK ARNTZEN (Delft): die epistemologischen Voraussetzungen, Bedingungen und Möglichkeiten sowie die Grenzen der „kräftigen, aber beschränkten“ sogenannten Booleschen Algebra. Nach einem kurzen wissenschaftsgeschichtlichen Rückblick auf die Entstehung und Entwicklung dieser auf wenige, aber effektive logische Operationen reduzierten mathematischen Struktur und einer anschaulichen Explikation dessen, worin sich die klassische von der Booleschen Algebra unterscheidet, skizzierte der Referent deren anwendungsbezogene Vorteile insbesondere im Bereich digitaler Techniken, die zu einer geradezu absurden Überschätzung ihrer Möglichkeiten geführt habe; indessen sei die Boolesche Algebra nicht unbedingt ein geeignetes Instrument zur physikalischen Grundlagenforschung. Arntzen verglich den Status der Booleschen Algebra mit der klassischen Mechanik, die durch die Quantenphysik keineswegs obsolet geworden, aber doch entscheidend relativiert worden sei; es zeichne sich bereits ab, dass auf die bislang dominierende klassische Informationstheorie eine Theorie (und entsprechende technische Praktiken) der Quanteninformation folgen würde.

Die beiden nächsten Vorträge sollten einerseits die vorangehende Diskussion durch alternative Zugänge der künstlerischen Forschung ergänzen und weiterführen, andererseits hinsichtlich der Themenstellung im Vorfeld der Konferenz und des bisherigen Diskussionsverlaufs ein erstes Resümee ziehen. So stellte MAJA LINKE (Bremen) verschiedene künstlerische Ausdeutungen von „Kanon“ und „Institution“ zur Diskussion, darunter Arbeiten von Annette Weisser, Svea Duve und William Kentridge, mit denen sie einmal mehr Relevanz und Tragweite der künstlerischen Forschung für interdisziplinäre Arbeitszusammenhänge demonstrieren konnte. Zu den ausgesprochen stimulierenden Beispielen gehörte auch das „Unvollendete Glossar“ von Susanne Weiß, die in ihrem 2018 gestalteten „Denk- und Vermittlungsraum“ im Hamburger Bahnhof die Stellungnahmen von „Künstler:innen, Akademiker:innen, Praktiker:innen“ zu aktuellen kulturellen Leitbegriffen zu einem begehbaren, subjektiv oszillierenden, kanonische wie institutionelle Festschreibungen unterlaufenden Thesaurus angeordnet hatte.

Abschließend erinnerte HEINZ GEORG HELD (Pavia) an das Bedeutungsspektrum des Begriffspaars „Kanon“ (der kodifizierte Sammlungsbestände mit performativen Wiederholungen und Kreisbewegungen verknüpft) und „Institution“ (als konstruktive Grundlage und kontrollierender Überbau). Das insistente Zusammenspiel dieser wechselseitig aufeinander bezogenen Elemente sei einerseits eine notwendige Voraussetzung einer systematischen wissenschaftlichen Forschung, lasse aber zugleich das strukturelle Muster einer Wiederholungszwängen ausgelieferten „Befangenheit in der Situation“ erkennen. Diesem Dilemma sollte, so der Referent, mit Blick auf die zurückliegende wie künftige Arbeit des IDK durch fortgesetzte methodologische Selbstreflexion in interdisziplinären Grenzbereichen begegnet werden.

Drei ausführliche Diskussionsrunden, an denen als weitere Konferenzgäste auch Anna M. Horatschek (Kiel) und Birgit Stammberger (Lübeck) teilnahmen, beendeten die Tagung.

Konferenzübersicht:

Nils Heeßel (Altorientalistik, Marburg): Streit um den „Kanon“. Altorientalische Gelehrte zwischen politischen Notwendigkeiten und wissenschaftlichen Ansprüchen

Florian Müller (Archäologie, Innsbruck): Der „Vater der Archäologie“ in Tirol Anton Roschmann (1694-1760) und seine Methodik und Zielrichtung der Erforschung der Tiroler „Urgeschichte“

Bernd Kuwalik (Kunstgeschichte, Bern): Das bislang vergessene erste interdisziplinäre internationale Forschungsprojekt und seine weitreichenden Folgen für die Wissenschafts- und Kulturgeschichte (nicht nur Europas): die römische Accademia de lo Studio de l’Architettura (ca. 1530-1550)

Reiner Fenske (Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Dresden): Fragile Entwicklungen. Die Institutionalisierung der Entwicklungsforschung in der Bundesrepublik als umstrittenes Projekt (ca. 1960-1990)

Alexander Stöger (Geschichte der Naturwissenschaften, Leiden): Der Kosmos voller Dogmatismus – Über den Einsatz der Rhetorik epistemischer Laster zur Selbstdefinition deutscher Zoologen des 19. Jahrhunderts

Florian Grafl (Kulturwissenschaft, Heidelberg): Gesellschaftsskizzen und die transregionale Kanonisierung von Wissen über kulturelle Praktiken Mitte des 19. Jahrhunderts

Beate Löffler (Bau- und Architekturgeschichte, Dortmund): Vom Forschungsbeiwerk zum Mythos. Wie Japan zum Ideal der Architekturmoderne wurde

Petra Missomelius (Medienwissenschaft, Innsbruck): Wissensinstitutionalisierung und Bildungsindustrie

Pit Kapetanovic (Philosophie, Heilbronn): Lässt sich „Größe“ transparent machen? Zur Kanonvermittlung im Philosophie- und Ethikunterricht

Oliver Fohrmann (Volkswirtschaft, Münster): Zur Herrschaft des Geldes in der kanonischen und institutionalisierten Ökonomik

Lodewijk Arntzen (Physik, Delft): Boolean Algebra, kräftig, aber beschränkt

Maja Linke (Künstlerische Forschung, Bremen): Den Kanon untertunneln – vielstimmig singen

Heinz Georg Held (Kulturwissenschaft, Pavia): Kanon und Institution – begriffsgeschichtliche Reflexionen

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